Eine neue Art der Krebstherapie macht Forschern große Hoffnung: Durch sie steigt die Lebenserwartung von Patienten um mehrere Jahre. Was den Ansatz so erfolgreich macht und wo die Vorteile gegenüber einer klassischen Chemotherapie liegen, erklärt Krebsforscher Jürgen Wolf im Interview mit ntv.de.
n-tv.de: Beim Kampf gegen den Krebs ist die sogenannte personalisierte Therapie einer der großen Hoffnungsträger unter Forschern – warum?
Jürgen Wolf: Mit der personalisierten Therapie gibt es meiner Ansicht nach die ganz große Hoffnung, dass in Zukunft viele fortgeschrittene Krebserkrankungen von einer unmittelbar tödlichen Gefahr in eine chronische Erkrankung verwandelt werden können. Die Heilungsrate wird in den nächsten zehn Jahren vermutlich gar nicht so sehr ansteigen. Aber ich bin mir ganz sicher, dass die Dauer des Überlebens für die meisten Krebspatienten um Jahre ansteigen wird.
Erklären Sie uns doch bitte kurz, wie die personalisierte Therapie funktioniert
Die personalisierte Therapie beruht darauf, dass man versucht, jeden Patienten nach der spezifischen Empfindlichkeit seines Tumors zu behandeln. Um diese Empfindlichkeit herauszufinden, muss man den Tumor vorher ausführlich analysieren. Das heißt, dass man das Erbgut des Tumors auf alle möglichen Mutationen untersucht, um dann festzustellen, auf welches Medikament dieser Tumor anspricht. Dann bekommt jeder Patient, je nach Mutation der Tumorzellen, ein maßgeschneidertes Medikament. Bei ungefähr 20 Prozent der Lungenkrebspatienten, immerhin schon jeder Fünfte, gibt es bereits zugelassene Medikamente.
Wie wurden Patienten mit Lungenkrebs bisher behandelt?
Die Mehrzahl der Lungenkrebspatienten, rund 85 Prozent, können nicht mehr operiert werden. Für diese war über Jahrzehnte die Chemotherapie die einzige Möglichkeit einer medikamentösen Therapie. Leider war diese bisher nicht sehr effizient, nur bei etwa jedem fünften Patienten schrumpfte in Folge der Tumor. Der Effekt war zudem sehr kurz und die Nebenwirkungen beträchtlich. Und das mediane Überleben – das ist die Zeit, nach der die Hälfte der Patienten stirbt – lag über Jahrzehnte unverändert bei nur einem Jahr.
Wieso ist man erst jetzt auf die Idee gekommen, eine personalisierte Therapie einzusetzen?
Dem erfolgreichen Einsatz der personalisierten Therapie in den vergangenen Jahren ist eine systematische Tumorgenomforschung vorausgegangen. Erst durch diese wurde bekannt, dass Tumore keine einheitlichen Erkrankungen sind. Lungenkrebs ist nicht gleich Lungenkrebs, sondern besteht aus vielen Untergruppen. Und jede dieser Untergruppen ist gekennzeichnet durch eine Mutation, also eine Veränderung im Erbgut der Tumorzellen. Wir nennen diese Mutationen auch Treibermutationen, weil sie den Tumor dazu antreiben, bösartig zu wachsen. Daher sind diese Mutationen auch gleichzeitig die Achillesferse des Tumors – wenn man hier angreift, kann man das Tumorwachstum stoppen. Wir erleben zurzeit, dass gegen immer mehr dieser Mutationen wirksame Medikamente, sogenannte zielgerichtete Medikamente, entwickelt werden, die genau an dieser Achillesferse ansetzen.
Wie erfolgreich ist die personalisierte Therapie, etwa im Vergleich zur Chemotherapie?
Die Tumorschrumpfungsrate ist wesentlich höher: Statt in 20 Prozent der Fälle, wie bei der Chemotherapie, lässt die personalisierte Therapie in 70 Prozent der Fälle den Tumor schrumpfen. Zudem ist die Wirksamkeit viel länger und die Verträglichkeit besser. Die meisten der Medikamente nimmt man nur als Tablette ein. Und viele Patienten arbeiten während der Therapie normal weiter. Aber das Allerwichtigste: Das Überleben der Patienten wird um Jahre verlängert. Wir haben jetzt Patienten, die viele, viele Jahre mit metastasiertem Lungenkrebs ein gutes Leben führen, mit nur einer Tablette am Tag. Und das ist etwas, das wir vor Jahren noch für vollkommen unmöglich gehalten haben.
Wenn man mit der Behandlung beginnt – wie schnell wirken die Medikamente?
Fast alle Patienten sprechen sehr schnell an. Wenn man ein wirklich wirksames Medikament hat, dann ist der Effekt oft schon innerhalb weniger Tage zu sehen. Das heißt nicht nur, dass bei der ersten Kontrolle nach vier bis sechs Wochen der Tumor schrumpft. Sondern dass Patienten, die zum Beispiel Atemnot oder Schmerzen haben, oft schon nach zwei, drei Tagen berichten, dass es ihnen deutlich besser geht.
Wie schätzen Sie die Entwicklung bei der personalisierten Therapie ein?
Die Entwicklung ist atemberaubend. Und gerade Lungenkrebs, der bisher mit am schlechtesten zu therapierende Krebs, ist so etwas wie der Schrittmacher der Entwicklung geworden, weil man hier schon so viele dieser Treibermutationen entdeckt hat und auch die entsprechenden Medikamente zur Verfügung stehen. Was man aber auch ehrlich sagen muss: Wir finden nicht bei allen Patienten diese Treibermutationen. Und zweitens: Wir können damit Krebs definitiv nicht heilen.
Werden denn genug Patienten mit Krebs auf Mutationen getestet?
Das ist in Deutschland ein Problem, dass die Testrate bei Patienten mit Lungenkrebs leider zu gering ist. Auf viele dieser Mutationen wird gerade mal die Hälfte der Patienten getestet und entsprechend behandelt. Selbst bei den am längsten bekannten Mutationen wird noch jeder dritte Patient nicht entsprechend personalisiert behandelt. Und das sind Tausende von Lebensjahren, die jedes Jahr verlorengehen.
Kann man sich diese neue Art von Therapie auch für andere Krebsarten vorstellen?
Ja, definitiv. Diese Treibermutationen werden zunehmend auch bei anderen Tumorformen entdeckt
Was ist Ihr Ziel – personalisierte Therapie für alle Krebspatienten?
Wir erreichen jetzt etwa ein Drittel der Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkrebs in Deutschland. Unsere Vision ist, dass wir in den nächsten zwei bis drei Jahren wirklich fast alle Patienten erreichen, damit jeder Patient in Deutschland, egal ob er an eine Uniklinik geht oder nicht, die Chance hat, von der personalisierten Therapie zu profitieren.
Mit Jürgen Wolf sprach Daniela Halm; Interview auch abrufbar auf ntv.de